ADHS im Kindes- und Jugendalter
-
News & Informationen -
7. Juni 2024 um 18:47 -
940 Mal gelesen -
0 Kommentare
Zusammenfassung
Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist eine häufige, chronische neuropsychiatrische Störung mit genetischem Hintergrund, multiplen Komorbiditäten und einem großen Spektrum an individuellen und sozialen Beeinträchtigungen. Trotz zahlreicher positiver Eigenschaften und meist erfolgreicher medikamentöser Therapie bestehen langfristige, individuelle Auffälligkeiten und Dysfunktionen und bedingen auch im Erwachsenenalter eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität. Ungelöste Probleme sind vor allem transgenerationale soziale Belastungen, schwere Verlaufsformen mit komorbider Störung des Sozialverhaltens, therapeutische Versäumnisse und Non-Compliance sowie die Frage effektiver Prävention. Der Übersichtsbeitrag versucht, die Erkenntnisse der letzten 10 Jahre zusammenzufassen und einen Einblick in die Komplexität der Bedingungen, Auswirkungen, Diagnostik und Therapie zu geben.
Abstract
Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist eine genetisch bedingte [21, 67, 111, 141, 233, 319] chronische Störung, die durch ein großes Spektrum [212] von persistierenden Aufmerksamkeitsproblemen, Hyperaktivität, Impulsivität und einer Störung der Emotionsregulation [64, 68, 111, 310] sowie verschiedenen komorbiden Problemen [222], z. B. Störung des Sozialverhaltens (SSV), dysexekutive [266], kognitive [239] und Teilleistungsprobleme, Angst- und Ticstörungen gekennzeichnet ist. Probleme betreffen nicht nur die neuronale oder intellektuelle Funktion und Leistungsfähigkeit, sondern auch das Verhalten und die familiäre und soziale Integration [128, 154]. Zwillingsstudien, genetische Linkage- und genomweite Assoziationsstudien belegen eine Heredität von etwa 72–80 %, davon wenigstens bei einem Drittel der Betroffenen mehrere Gene betreffend.
Nach der DSM-5-Klassifikation (314.00‑2; [10]) und der ICD-11-Klassifikation (6A05.0‑2; [350]) werden nach den Hauptsymptomen drei Typen unterschieden: ein unaufmerksamer, ein hyperaktiv-impulsiver und ein kombinierter Typ, der die Symptome beider Typen beinhaltet. Dabei wird der hyperaktiv-impulsive als Vorstufe des kombinierten Typs gesehen. Die häufige Kombination, ADHS mit Störung des Sozialverhaltens, wird in beiden Klassifikationssystemen zusätzlich kodiert, wobei eine leichtere, oppositionelle (DSM‑5 313.81 bzw. ICD-11 6C9) und eine schwerere, dissoziale Verhaltensstörung (DSM‑5 312.81,2,9 und ICD-11 6C91) unterschieden werden.
ADHS betrifft wenigstens 3–6 % aller Schulkinder [263] und bedingt auch im Erwachsenenalter schwerwiegende psychische und soziale Konsequenzen [136, 173]. Es bestehen phänotypische Geschlechtsunterschiede: Bei Buben, die eher den impulsiv-hyperaktiven bzw. kombinierten Typ aufweisen, wird ADHS etwa 3‑mal häufiger diagnostiziert als bei Mädchen, die eher den unaufmerksamen Typ zeigen. Der Hintergrund dieser Unterschiede ist unklar, methodische Einflüsse [346], Einflüsse des Y‑Chromosoms und der Geschlechtshormone auf die Hirnentwicklung [194], Unterschiede im exzitatorischen Glutamatsystem [339] und geschlechtsspezifische unterschiedliche Stressverarbeitung [23] werden diskutiert. Es bestehen auch geografische Prävalenzunterschiede [297], wobei eher methodische (z. B. Unterschiede in den diagnostischen Kriterien der ICD- und DSM-Klassifikation, klinische vs. epidemiologische Stichproben) als humangenetische oder umweltbedingte Ursachen diese Unterschiede bedingen dürften. Das kombinierte Krankheitsbild, ADHS mit Störung des Sozialverhaltens, bedingt eine schlechtere Prognose [40, 186, 254]. ADHS beeinträchtigt das Familien- und das soziale Leben, Schulerfolg, Freundschaften [128, 175, 220], Berufsaussichten und das subjektive Wohlbefinden [53], erhöht die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Essstörungen (Adipositas und Anorexia nervosa; [226, 232]) und verursacht intrafamiliär und volkswirtschaftlich erhebliche Kosten [48, 313, 315]. Medikamentöse Therapie bringt klare Vorteile für Lebensqualität [75, 87, 127] und Zukunftschancen und jedenfalls auch Kostenvorteile [351]. Es gibt auch assoziierte Stärken des ADHS, wie vielseitige Interessen, Energie, Ausdauer, Humor, Charme, Echtheit, Kreativität, Spontaneität, Sensibilität, Mut, Willenskraft, Gefühlsbetonung und prosoziales Verhalten [195, 206, 285].
ADHS ist behandelbar [22, 50, 60, 94, 132, 224, 244, 246]: Stimulanzien, insbesondere Methylphenidat (MPH
Die Arbeit will einen subjektiven, praxisorientierten Überblick über neuere Entwicklungen zum Thema ADHS anhand ausgewählter Literaturzitate geben.
Methoden
Die vorliegende Arbeit beruht auf einer systematischen Literaturrecherche, wobei die Datenbank PubMed nach dem Stichwort ADHD (38.228 Treffer), eingeschränkt auf die letzten 10 Jahre (21.240 Treffer), Reviewartikel (2931 Treffer), „children“ (1752 Treffer) und englische Sprache (1576 Treffer) durchsucht wurde. Die verbleibenden 1576 Arbeiten wurden hinsichtlich ihrer Qualität, Themenrelevanz nach Titel bzw. Abstract gescreent (verbliebene Arbeiten 224) und durch zusätzliche, themenbezogen recherchierte Arbeiten (n = 199) ergänzt. Von diesen 423 Arbeiten wurden im vorliegenden Beitrag 360 verwendet (Abb. 1).
Abb. 1
Ergebnisse
Ätiologie
ADHS ist eine Spektrumstörung, d. h. es gibt eine Vielfalt klinischer Ausprägungen, Schweregrade, Komorbiditäten und Verläufe sowie auch eine beträchtliche ätiologische Heterogenität [228, 315]. Strukturell finden sich globale Auffälligkeiten, insbesondere verzögerte Hirnentwicklung mit kortikaler Massenreduktion vor allem im Frontalhirn, weiterhin thalamikale und zerebelläre Strukturdefizite, Vernetzungsprobleme langer Bahnen [332] sowie Mikrostrukturanomalien frontal, temporal und parietal [7, 112, 267, 330]. Funktionelle Defizite betreffen Aktivierung und Konnektivität in diesen Arealen [125]. Überschneidungen gibt es auch mit der Autismusspektrumstörung [319].
Als ursächlich werden genetisch und epigenetisch bedingte Probleme im Katecholamin-Neurotransmitterstoffwechsel gesehen, die eine verminderte dopaminerge inhibitorische Funktion des (rechtsseitigen) präfrontalen, cingulären und temporalen Kortex sowie im Striatum bedingen [148, 174, 219, 283]. Der präfrontale Kortex ist unter anderem für exekutive (EF) und soziale Funktionen, das Cingulum für Aufmerksamkeits- und Auswahlsteuerung zuständig. Dopaminerge Neurone sind wesentlich für Motivation, Lernen, Aufrechterhalten zielorientierten Verhaltens und beim Kurzzeitgedächtnis [277], noradrenalinerge Neurone für Aktivierung und Steuerung der Aufmerksamkeit [18] verantwortlich. Zusätzlich wurden strukturelle und funktionelle Defizite im Default-Mode-Netzwerk [29] und im Glutamatsystem [160] beschrieben. Killeen et al. [172] sehen die grundlegende Pathologie in einem Energiedefizit aktiver Neurone, deren Laktatenergienachschub durch noradrenalinabhängige Gliazellen nur unzureichend funktioniert.
ADHS wird in hohem Grad (etwa 80 % [88, 135, 141, 319]) polygen vererbtFootnote 1 [355]. Eltern mit ADHS haben eine mehr als 50%ige Chance, ein Kind mit ADHS zu bekommen [109].
Es gibt aber auch klare Hinweise für umweltbedingte Risikofaktoren [6, 210]. Prä- und perinatale Faktoren (insbesondere Frühgeburtlichkeit und perinatale Komplikationen; [119, 227, 264, 288, 298]) sowie fraglich Luftverschmutzung [96, 223], Bleiexposition [54, 105] und oxidativer Stress [327]. Veränderungen des Mikrobioms[57] können ebenfalls ein ADHS (mit-)bedingen oder verstärken: Rauchen in der Schwangerschaft z. B. scheint unabhängig vom genetischen Risiko das Risiko für das Auftreten [95, 155, 159] von ADHS und schwereren ADHS-Verlaufsformen [323] dosisabhängig zu erhöhen. Das fetale Alkoholsyndrom [92, 165] geht mit einem verminderten Wachstum präfrontaler und temporaler Bereiche einher, intrauteriner Sauerstoff- und Eisenmangel [32], Hyperbilirubinämie [303], Jodmangel und Hypothyroxinämie [328] bzw. Behandlung mit Thyroxin in der Schwangerschaft [121] beeinträchtigen möglicherweise das dopaminerge System. Temporale und frontale Hirnschäden oder Schäden am Nucleus caudatus oder an frontostriatalen Bahnen können im Rahmen von Apoplexie, Blutungen, Verletzungen oder im Gefolge von Infektionen ebenfalls ein ADHS bedingen [153, 211]. Auch emotionale Vernachlässigung im frühen Kindesalter [360] stellt ein erhöhtes Risiko für ADHS dar, wobei das bei der untersuchten Population rumänischer Waisenkinder wahrscheinlich erhöhte genetische Risiko nicht unabhängig davon analysiert wurde. Als protektiv werden Intelligenz [265], sozioökonomische [270] und familiäre Faktoren [268] sowie Stillen [25] gesehen.
ADHS ist durch phänotypische Heterogenität gekennzeichnet, deren genauer genetischer und pathophysiologischer Hintergrund derzeit Gegenstand intensiver Forschung ist [83]. Nach Barkley [26] lassen sich die Kardinalsymptome auf exekutive Inhibitionsdefizite, Probleme des Arbeitsgedächtnisses, der Wahrnehmung [126], der Selbstregulation, der Internalisierung von Sprache sowie der Verhaltensanalyse und -synthese zurückführen, wobei experimentell eher die Inhibition geplanter Aktivitäten (Stop- oder Go‑/No-go-Aufgaben) beeinträchtigt erscheint. Entscheidend sind vor allem die defizitäre Verhaltensinhibition und Probleme im Arbeitsgedächtnis [9]. Dieses Modell wurde auch wiederholt experimentell bestätigt (z. B. [348]). Ein anderes Modell [272] sieht Probleme im Belohnungssystem (Belohnungsaufschub) und damit verbundene Motivationsschwierigkeiten als Primärdefekte, die zahlreiche Folgeprobleme bedingen. Sonuga-Barke et al. [299, 301] haben aus diesen beiden Modellen ein Dual-pathway-Modell entwickelt, das funktionale und motivationale, aber auch umweltbedingte Probleme und Anpassungsvorgänge (z. B. im Rahmen der Eltern-Kind-Interaktion bzw. das Verhalten von Eltern[-teilen] mit [unbehandeltem] ADHS [235]) berücksichtigt. Sonuga-Barke und Halperin [300] versuchten aus diesem Modell heraus auch Präventionsstrategien zu entwickeln. Singh [297] erklärt die Vielfältigkeit des ADHS aus der Sicht eines biopsychosozialen Modells. Insgesamt scheinen sich erhöhtes genetisches und umweltbedingtes Risiko zu ergänzen: je größer die Anzahl von Risikofaktoren, desto größer auch der Ausprägungsgrad des ADHS [41] sowie die Anzahl und der Schweregrad komorbider Probleme [201]; andererseits, je größer die Anzahl an Resilienzfaktoren, desto besser die Prognose.
Buben sind in klinischen Stichproben deutlich stärker repräsentiert (etwa 9–10:1), wobei das Prävalenzverhältnis in epidemiologischen Feldstudien 2–3:1 beträgt. Dieser Unterschied ist vermutlich bedingt durch die vermehrte Kombination ADHS mit Verhaltensauffälligkeiten bei Buben (Buben: Mädchen = 20 %: 8 %; [38]) und die wegen der weniger auffälligen klinischen Symptomatik (prädominant unaufmerksamer Typ) verbundene hohe Dunkelziffer bei Mädchen.
Klinik und Komorbiditäten
Die klinische Vielfalt des ADHS wird neben den Kardinalsymptomen auch beeinflusst durch das Lebensalter ([14, 118, 156, 314, 342]; Tab. 1 und Umweltbedingungen; s. Abschn. 1).
Multiple komorbide, internalisierende und externalisierende Probleme sowie neurokognitive Defizite [239] bestimmen zusätzlich das klinische Bild. Sie sollten sorgfältig abgeklärt und in der Therapie berücksichtigt werden [12, 42, 326]. Nur ein Drittel der Kinder der 579 Kinder der Multimodal Treatment Study of Children with Attention Deficit Hyperactivity Disorder (MTA [297] hatte keine komorbiden Probleme. Bei den von unsFootnote 2 untersuchten 500 Kindern mit ADHS [230] waren dies nur 4 %! Die häufigsten komorbiden Probleme sind dysexekutive [169]; 99,6 % im eigenen, klinischen Patientengut, SI 6–16 % [34]), Teilleistungs- (78 % im eigenen Patientengut), Wahrnehmungs- [126] und Sprachentwicklungsstörungen (7 % im eigenen Patientengut), SSV vom oppositionellen Typ (über 50 %), schwere Depression und Angststörungen (je ein Drittel) sowie Tics (11–20 %). Eine rezente Arbeit [55] zeigt eine Verbindung zwischen ADHS, emotionalem oder sexuellen Trauma und der Entwicklung von Borderline-Persönlichkeitsstörung. Einzelne Patientengruppen haben deutlich höhere ADHS-Prävalenzen: zum Beispiel sind ADHS und Intelligenz negativ korrelliert [265], Patienten mit chronischen Ticstörungen (55 % der Kinder mit chronischen Ticstörungen haben eine komorbide ADHS-Diagnose [120], 20 % der ADHS-Kinder entwickeln eine chronische Ticstörung [45]), depressive Episoden (70 % [37]) und Patienten aus dem Autismusspektrum (etwa 36–50 %; [149]). ADHS ist ein Risikofaktor für Unfälle und Verletzungen [269], Substanzabusus [142, 258] und Medienabhängigkeit [58, 335]. Auch Essstörungen [187], Adipositas und Diabetes Typ 2 sind bei ADHS-Patienten häufiger [184]. Bei diesen Patientengruppen sind gemeinsame genetische Faktoren sehr wahrscheinlich beteiligt.
Das Herauswachsen aus dem ADHS, Symptomverlust oder Nachreifung wird in der Literatur unterschiedlich behandelt [311]. In 50–60 % persistieren wichtige Symptome, wobei sich die Hyperaktivität bei den meisten Kindern in der Pubertät verringert. Inwieweit die Verbesserung eher Resilienzfaktoren, einer Nachreifung neuronaler Strukturen oder einem Therapieerfolg [311] zugeschrieben werden kann, ist im Wesentlichen unklar. Langzeitstudien zeigen, dass Patienten mit komorbiden Problemen eine schlechtere Prognose haben als Patienten mit nur ADHS [39].
Die Kombination aus ADHS und SSV ist sowohl für die Lebensqualität als auch für die Prognose bedeutsam [202]. Die amerikanische Literatur und neuerdings auch die ICD-11 unterscheiden zwischen ODD („oppositional defiant disorder“, oppositionelles Trotzverhalten) mit einer Komorbiditätsrate von 30 bis 50 % [344] und CD („conduct disorder“, dissoziale Verhaltensstörung) mit einer Komorbiditätsrate von etwa 3 % [106]. Das Komorbiditätsrisiko ist für beide Formen höher bei der hyperaktiv-impulsiven (und kombinierten) Variante des ADHS, während die aufmerksamkeitsgestörte Form eher mit Intelligenzdefiziten einhergehtFootnote 3 [344]. Sowohl der Schweregrad des ADHS als auch komorbide SSV sind abhängig von psychosozialen Faktoren (z. B. elterlicher Erziehungsstil, persönliche Erfahrungen im sozialen Netzwerk; [81, 210]). Soziales Problemverhalten und Depression prädestinieren insbesondere unbehandelt für schwere Verlaufsformen, schulisches, berufliches und soziales Versagen, Außenseitertum, Risikoverhalten, Delinquenz und Drogenabhängigkeit [142, 338]. Die therapeutischen Optionen sind limitiert durch schlechteres Ansprechen auf Medikation, auch pharmakologische Incompliance und vermehrt auftretende unerwünschte Nebenwirkungen insbesondere der antiimpulsiven Neuroleptika (z. B. Gewichtszunahme, Müdigkeit). Da auch die familiären Hintergrundbedingungen (Armut, ADHS-Bezugspersonen, inkonsequenter, strenger und rigider Erziehungsstil) Symptomatik und Verlauf ungünstig beeinflussen, erscheint eine möglichst im frühen Kindesalter einsetzende multimodale Therapie, Elternberatungs- und Gruppentherapieprogramme zusätzlich zur medikamentösen Therapie, besonders wichtig [257].
Dysexekutive Probleme, d. h. Probleme der Inhibition, des Arbeitsgedächtnisses, der Aufmerksamkeitssteuerung und im Planen und Abwägen von Entscheidungsoptionen, sensorische Integrationsstörungen (Über- oder Unterempfindlichkeit bzw. Modulationsprobleme für sensorischen Input [Sehen, Hören, Gleichgewichts-, taktile und Tiefensensibilität]) sowie Teilleistungsstörungen (Probleme der Raum-Lage-Koordination, der Serialität, Lese-Rechtschreibschwäche [139] usw.) bestimmen neben den ADHS Kardinalsymptomen und den Verhaltensproblemen den schulischen und sozialen (Miss‑)Erfolg. Dysexekutive Probleme wurden in den letzten Jahren intensiv mittels bildgebender Verfahren erforscht [125, 176, 343]. Klinisch scheint dem ADHS- auch ein EF-Spektrum zu entsprechen. Die einzelnen ADHS-Untertypen weisen auch unterschiedliche EF-Defizite auf: der impulsive (und kombinierte) Typ zeigt eher Inhibitionsdefizite, die aufmerksamkeitsgestörte Form eher Probleme des Arbeitsgedächtnisses [134]. Diagnostisch werden „coole“, frontoparietal gelegene Netzwerke, die für Planen, Arbeitsgedächtnis und Inhibition zuständig sind, von „heißen“, frontolimbischen Netzwerken, mit stärkerer affektiver Komponente (Belohnung, Motivation) unterschieden [354]. Dabei werden ADHS-Defizite eher den „coolen“ EF zugeschrieben. Therapieoptionen sind neben Ergotherapie zum Teil kostenintensive Onlineprogramme (z. B. CogmedFootnote 4), die vor allem für Schädeltraumapatientinnen und -patienten entwickelt wurden [183], und kognitive Verhaltenstherapie (Review z. B. [193]).
Sensorische Integrationsstörungen (Sensory Processing Disorder, SI/SPD; [295]) werden vor allem im Kleinkind- und Grundschulalter bei 6–20 % der Kinder [34] beobachtet. Sie sind die spezifische Domäne der ergotherapeutischen Diagnostik und Therapie. Die Reaktion auf sensorische Empfindungen ist bei verschiedenen Menschen unterschiedlich in Abhängigkeit von der Art, der Intensität, der affektiven Reaktion und der Zeitdauer. Kinder mit SI-Problemen reagieren entweder auffällig/inadäquat („sensation seeking“ oder inputvermeidend/ängstlich irritiert) bzw. werden durch die gestörte Informationsverarbeitung von anderen Tätigkeiten abgelenkt. Sensorische Integrationsprobleme können (z. B. als taktile Überempfindlichkeit) auch bis in das Erwachsenenalter persistieren, genauere epidemiologische Daten fehlen allerdings. Die Differenzialdiagnose zu ADHS ist vor allem im Kleinkindalter schwierig, sodass jedenfalls Ergotherapie bei „auffälligen“ Kindern versucht werden sollte, da sich dysexekutive Probleme unter dieser Therapie verbessern. Ein Problem ist die Verfügbarkeit von krankenkassenfinanzierten Therapieplätzen und die Anerkennung der Nützlichkeit von SI-Therapie (die Diagnose SI-Störung hat es gerade nicht in die DSM-V-Klassifikation geschafft).
Depressive Störungen sind ein häufiges komorbides Problem des ADHS [91]. Epidemiologische Studien zeigen ein für Jugendliche mit ADHS bis zu 6‑fach erhöhtes Risiko (Prävalenz 8 % vs. 12–50 %!), an einer depressiven Störung zu erkranken [12]. Bei hospitalisierten Kindern mit ADHS hatten 36 % eine Depression, 22 % eine bipolare Störung, 8 % eine affektive Psychose und 3 % eine Dysthymie [52]. In der MTA [320] waren affektive Störungen mit etwa 3,8 % relativ unterdiagnostiziert, im eigenen ambulanten kinder-/jugendpsychiatrischen Krankengut schätzten sich 31,6 % der Kinder im DIKJ (Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche [308]) als depressiv ein, nach klinischer Einschätzung waren es 8,6 %. Die Dunkelziffer ist relativ hoch, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass die Symptome der Depression bei Kindern und Jugendlichen unterschiedlich im Vergleich zu Erwachsenen manifestieren (z. B. Ängstlichkeit, Kopf- und Bauchschmerzen, Verweigerung von Gruppenspielen, Rückschritte in der Entwicklung), wobei sich die Symptome von ADHS und Depression teilweise überlappen (Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Ungeduld, verminderte Leistungsmotivation), und dass der oft gesteigerte Antrieb der Kinder- und Jugendlichen-ADHS die Symptome der Depression überlagert bzw. ein Rückzug von der Umwelt zunächst als angenehm erlebt wird. Die Langzeitfolgen (schulischer und beruflicher Misserfolg, Selbstbehandlung mit Alkohol und Drogen, Flucht in virtuelle Welten, totaler resignativer und vermeidender Rückzug, deutlich erhöhtes Selbstmordrisiko [69]) sind, abgesehen von der massiv beeinträchtigten Lebensqualität, auch volkswirtschaftlich relevant [36, 116]. Therapeutisch ist daher die Kombination, Stimulanzien und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, bei entsprechender Indikation durchaus sinnvoll [3].
Bipolare Störungen (BMD) erscheinen vor allem in der amerikanischen Literatur als häufige Differenzialdiagnose zu ADHS, einerseits, weil die Ähnlichkeit der Symptome von Manie und ADHS die Diagnose erschwert, andererseits, weil auch beide Erkrankungen gleichzeitig vorkommen können [70] bzw. das Risiko einer später auftretenden bipolaren Erkrankung bei präpubertären Kindern mit ADHS deutlich erhöht ist: 50 % der nachverfolgten Kinder mit ADHS entwickelten innerhalb von 10 Jahren eine bipolare Erkrankung [131]. Familienuntersuchungen [108] zeigen eine familiäre Häufung beider Erkrankungen. Diagnostisch helfen vielleicht Alter (eventuell späterer Beginn der BMD), geringere Persistenz der manischen Symptome, Stimmungsschwankungen ohne Trigger und mit langsamerer Oszillationsfrequenz und -dauer bei BMD, Grandiositätsgefühle, Ideenflucht, Hypersexualität ohne Traumaanamnese und weniger klare familiäre Belastung bei BMD [130]. Bei komorbider Diagnose wird zunächst die Stabilisierung der BMD angestrebt, da insbesondere Stimulanzien das Auftreten einer manischen Episode begünstigen können.
Komorbide Angststörungen werden bei etwa ein Viertel bis ein Drittel der Kinder mit ADHS diagnostiziert; ein Viertel der Kinder mit Angststörungen haben auch eine ADHS-Diagnose [19, 163, 203, 242]. Angst und Störung des Sozialverhaltens sind korreliert, zwei Drittel der Kinder mit Angststörungen aus der MTA hatten auch eine entsprechende SSV-Diagnose [203]. Barkley et al. [28] fanden mütterliche Medikation mit Stimulanzien als Risikofaktor für kindliche Angststörungen. Kinder mit komorbider Angststörung sprechen weniger gut auf medikamentöse Behandlung des ADHS an und zeigen mehr medikamentenassoziierte Nebenwirkungen [241]. Dies wurde in der Studie allerdings nicht bestätigt.
Ticstörungen werden bei ADHS-Kindern häufiger beobachtet: in der MTA hatten 11 % der ADHS-Kinder auch komorbide Tics; komorbides ADHS wurde bei 21–54 % der Kinder mit Tourette-Syndrom beobachtet [242]. Stimulanzien können vorübergehend bzw. bei manchen Kindern auch dauerhaft die Häufigkeit und Schwere von Tics erhöhen [231]. Da Clonidin im Hinblick auf ADHS über geringe Wirkstärke verfügt, und ATX Tics nur selten fördert, spricht dies eventuell für eine bevorzugte Verwendung von ATX bei ADHS und komorbider Ticstörung [249].
ADHS erhöht das Risiko von frühem Substanzmissbrauch [341, 347]. Substanzmissbrauch und Alkoholkonsum werden vor allem bei unbehandeltem ADHS häufiger beobachtet [43]. Die von Eltern aufgrund von Fehlinformationen im Internet häufig geäußerten Bedenken eines erhöhten Risikos von Substanzmissbrauch und -abhängigkeit bei MPH-Therapie entbehrt jeder Grundlage. Im Gegenteil, Therapie mit MPH
Diagnostik
Umfassende, standardisierte klinische und klinisch-psychologische Diagnostik ist mit Rücksicht auf die Komplexität des Krankheitsbilds und seiner Komorbiditäten, des Aufwands der therapeutischen Optionen und der schlechten Prognose bei inadäquater Behandlung unbedingt erforderlich [71]. Die 2017 überarbeitete Leitlinie der DGKJPFootnote 5 [94] empfiehlt im Sinn einer multiaxialen Diagnostik als Mindestkriterien die klinische Beobachtung und klinisch-psychiatrische Diagnostik auf der Grundlage einer entsprechenden (standardisierten) Eigen‑, Eltern- und Fremdanamnese (z. B. Lehrerinnen und Lehrer, Kindergärtnerinnen und -gärtner usw.), auch hinsichtlich der Komorbiditäten und der Randbedingungen. Im weiteren ist eine umfassende Intelligenzdiagnostik inklusive Diagnostik von Teilleistungsstörungen, Entwicklungsdiagnostik bei Klein- und Vorschulkindern, bei Bedarf auch entsprechende klinisch pädiatrische bzw. pädiatrisch neurologische Diagnostik und Differenzialdiagnostik indiziert [306]. Eine rezente Übersichtsarbeit betont die Wichtigkeit der Validität von Symptomfragebögen [312].
Zu beachten sind Unterschiede in der Bewertung von ADHS-Symptomen und psychosozialen Konsequenzen zwischen Kindern, Eltern und Lehrerinnen und Lehrern [104, 152]. Übereinstimmungen ergeben sich eher in den Bereichen Lebensqualität und Gesundheit [127]. Ein weiteres Problem sind Outcome-Bewertungen, die einerseits vom Testverfahren, andererseits von der subjektiven Bewertung der Untersucherin bzw. des Untersuchers abhängen [276, 334]. Computerunterstützte Continuous-Performance-Tests [145] ermöglichen eine objektivere Untersuchung der Aufmerksamkeitsleistung. Der Test of Variables of Attention (TO-VA)Footnote 6 ist ein wertvolles Instrument vor allem in weniger eindeutigen Fällen und bei gut begabten Kindern. Leider ist er durch eine relativ geringe Spezifität von 70 % [280] und eine relativ geringe individuelle Reproduzierbarkeit [192] gekennzeichnet, da die individuelle Leistungsfähigkeit auch von der Tagesverfassung abhängt.
In der Praxis hat sich folgende klinisch-psychologische Standarddiagnostik (Tab. 2) bewährt, wobei die Empfehlung Testverfahren, die rezent aktualisiert wurden, berücksichtigt:
Therapie
Es gibt noch keine kurative Therapie des ADHS [197]. Seit der Entdeckung der Wirkung von Benzedrin (Amphetamin) gegen Aufmerksamkeits- und Verhaltensprobleme durch Charles Bradley (1937, 1950 [77]), insbesondere seit der Synthese von MPH
Behandlungsziele sind vor allem Symptomreduktion (s. unten) und Verbesserung der Lebensqualität [75] in allen Lebensbereichen, nicht nur im Schulsetting. Diese Ziele werden vor allem mit multimodaler Therapie, Verhaltenstherapie, Elternschulung und Pharmakotherapie mit retardiertem MPH
Stimulanzien
zeigen eine klinisch messbare Wirkung bei 73–77 % der Schulkinder. Vorschulkinder und Erwachsene haben eine größere Reaktionsbreite bzw. benötigen oft nur geringe Dosen [77]. Einen Überblick über die pharmakologischen Eigenschaften der Stimulanzien gibt eine rezente Arbeit von Faraone [107]. MPH-Non-Responder bessern sich oft durch Umstellung auf Lisdexamphetamin, Amphetamin, ATX, seltener Guanfacin (s. unten) oder die Kombination von MPH
Amphetamine
[205, 251] sind (wie auch MPH
Nebenwirkungen der Stimulanzientherapie sind vor allem Appetitmangel, gastrointestinale [157] und Schlafprobleme. Kinder mit ADHS neigen primär zu Schlafproblemen [44, 147, 278]. Schlafprobleme können auch ADHS-Symptome bedingen oder verstärken [115], sind aber auch Teil der Nebenwirkungen der Stimulanzientherapie [66]. Therapeutisch kommen vor allem Schlafhygiene und Melatonin [51] infrage. Kardiovaskuläre Probleme sind eher gering bzw. selten [191]. Weitere Nebenwirkungen können sich in Kopf- und Magenschmerzen, depressiver Verstimmung, Reizbarkeit, Traurigkeit und sehr selten bei Überdosierung bzw. langsamer Metabolisierung in psychotischen Symptomen manifestieren [208]. Aggressivität ist keine Kontraindikation gegen Stimulanzientherapie. Initiale Verstärkung einer Ticneigung bessert sich oft nach etwa 2 Wochen Therapiedauer. Ob längerdauernde Stimulanzientherapie das Wachstum beeinträchtigt, wird widersprüchlich diskutiert [261, 324]. Nebenwirkungen der Amphetamintherapie werden etwas häufiger als bei MPH
Die Ergebnisse der MTA [320, 321] zeigten, dass die Kombination MPH
Das Risiko missbräuchlicher Stimulanzienverwendung insbesondere bei Studenten ist relativ hoch mit einer großen Streubreite (0,7–80 %; [111]) und sollte daher immer berücksichtigt werden. Nichtansprechen auf Stimulanzientherapie erfordert einen Wechsel auf andere Substanzklassen wie Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, Alpha-2-Agonisten oder andere, in diesem Zusammenhang weniger erforschte Substanzen [292].
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
ATX (Footnote 12) wurde erstmals 1998 bei Erwachsenen bzw. 2001 erstmals bei Kindern mit ADHS untersucht. Seither haben 25 kontrollierte Studien [161, 286] eine im Vergleich zu Stimulanzien etwas geringere Effektivität im Hinblick auf die Kardinalsymptome des ADHS bescheinigt. Die Therapie mit ATX ist etwas schwieriger einzustellen als mit Stimulanzien, da die Wirkung langsamer bzw. erst nach mehreren (bis zu 12) Wochen eintritt und zunächst vermehrte Kreislaufnebenwirkungen beobachtet werden können. Bei etwa 10–15 % der Kinder treten Nebenwirkungen wie besondere Müdigkeit und vermehrte Aggressivität auf, wobei unklar ist, ob diese als Teil des ADHS-Spektrums zu sehen ist, die unter der Therapie vermehrt auffällt oder als Nebeneffekt auftritt [256]. Jedenfalls war der Unterschied zur Kontrollgruppe hinsichtlich dieses Parameters in einer Metaanalyse nicht signifikant [286]. Genetische Cytochrom-p450-Polymorphismen sind vermutlich für Unterschiede in der Elimination von ATX verantwortlich [49]. Es gibt Hinweise, dass ähnlich wie bei MPH
Alpha-2-Agonisten
(Clonidin, Lofexidin und Guanfacin) wurden neben ihrer antihypertensiven Wirkung auch gegen Tics verwendet. Ihr therapeutischer Einsatz bei ADHS ist von niedrigen Effektstärken in Bezug auf die Kardinalsymptome (g um 0,35) gekennzeichnet, sie punkten aber bei der Therapie aggressiver und oppositioneller Verhaltensweisen, bei stimulanzieninduzierten Schlafstörungen und als Alternative bzw. Kombinationstherapie bei Stimulanzienversagen [16, 42, 63, 143]. Der Wirkmechanismus sei insbesondere auf die Stimulation präfrontaler postsynaptischer α‑2A-Rezeptoren zurückzuführen, die verhaltensinhibitorisch und das Arbeitsgedächtnis verbessernd wirken [78]. Verzögert wirksames Guanfacin kann oppositionelles Verhalten positiv beeinflussen, wenn Stimulanzien allein nicht ausreichen [114]. Nebenwirkungen der α‑2-Agonisten sind Müdigkeit, Reizbarkeit, Bradykardie und Kreislaufprobleme (Hypotension, Kopfschmerzen und gastrointestinale Symptome).
Die Leitlinien der deutschen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) [94] und der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry [140] empfehlen die Verschreibung von Stimulanzien und Atomoxetin nur nach sorgfältiger Abklärung und entsprechender Indikationsstellung. Eine Dosierungsempfehlung findet sich in Tab. 3.
Tab. 3 Dosierung von ADHS-Medikation
Atypische Neuroleptika
Aripiprazol, Clozapin, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon und Ziprasidon haben sich bei nicht ausreichender Wirkung von Stimulanzien bzw. ATX und sozialpsychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Problemen in möglichst niedriger Dosierung bewährt [196, 290, 337]. In einer retrospektiven Studie über 1,5 Jahre wurden 25 % der stationär aufgenommenen Kinder mit ADHS zusätzlich neuroleptisch behandelt [250], wobei mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen Risperidon erhielten. Für die Anwendung typischer Neuroleptika wie Haloperidol und die Kombination mehrerer Neuroleptika gibt es wegen der klaren Nebenwirkungsnachteile (Sedierung, Dyskinesien, hämatologische, metabolische und hepatale Probleme) nur wenige Indikationen außer der Hilflosigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten bei sehr aggressiven Kindern und Jugendlichen, die eher von sozialpsychiatrischen, Jugendwohlfahrts- und erlebnispädagogischen Interventionen zusätzlich zur konventionellen Medikation profitieren.
Kritiker bemängeln, dass die Wirkung von Stimulanzien bzw. ATX und Neuroleptika entgegengesetzt sei: die einen würden als indirekte Agonisten die Verfügbarkeit von Dopamin am Rezeptor vermehren, die anderen als Antagonisten verringern. Auch sei der Wirkmechanismus ungeklärt. Dagegen wird eingewandt, dass unterschiedliche Wirkorte und Rezeptoren betroffen seienFootnote 13 und dass die klinische Wirksamkeit unbestritten sei [234]. Es gibt leider nur wenige prospektive Kombinationsstudien [189]. Die Empfehlung lautet daher, Neuroleptika nicht isoliert, sondern eingebettet in psychosoziale Interventionen in der Therapie einzusetzen, zumal sich die Kombination aus Neuroleptika und situativen verhaltenstherapeutischen Ansätzen (z. B. Belohnungsstrategien, Kontingenzmanagement) positiv auf das Verhalten auswirken [284].
Verschiedene Leitlinien ([94, 140, 225], und andere) sollen evidenzbasierte, diagnostische und therapeutische Standards sichern und optimale Behandlungsergebnisse ermöglichen. Dies ist umso notwendiger, als viele Eltern durch Alternativtherapie gläubige, evidenzlose, medikationsfeindliche Webkampagnen verunsichert werden. Alle Leitlinien gehen von multiprofessioneller Diagnostik und einem multimodalen Therapiekonzept aus. Bei Einhaltung klarer diagnostischer Kriterien und sorgfältiger individueller Therapieplanung überwiegen die Vorteile der Medikation, die vor allem den betroffenen Kindern eine ihrem Potenzial entsprechende Ausbildung und Lebensqualität sichern soll, klar deren Nachteile.
ADHS und Epilepsie
Epilepsie ist eine im Kindes- und Jugendalter relativ häufige ErkrankungFootnote 14, bei der auch das Risiko für intellektuelle Beeinträchtigung und ADHS auf etwa 20–50 % deutlich erhöht ist [35, 329, 345]. Dabei ist es – vermutlich aufgrund der Heterogenität der Erkrankung – unklar, inwieweit die Erkrankung (z. B. dysfunktionale Neurotransmission) oder die notwendige Medikation an der hohen Komorbidität beteiligt sind. Phenobarbital, Valproinsäure, Phenytoin, Topiramat und Ethosuximid haben einen negativen, Carbamazepin und Lamotrigin einen positiven, und Levetiracetam, Oscarbazepin, Gabapentin und Vigabatrin einen neutralen Effekt auf das Verhalten, die kognitive Leistungsfähigkeit und die ADHS-Symptomatik [329]. Für Pregabalin gibt es keine publizierten Daten. Die Wirkung von Stimulanzien und ATX auf die Anfallshäufigkeit ist unklar; bisherige Studien belegen eher eine Verringerung der Anfallsfrequenz [329].
Nichtpharmakologische Therapie
Sozialpsychiatrische, psychosoziale und psychotherapeutische Interventionen sind unumgänglich bei einem Krankheitsbild, das auch durch die Umgebung und intraindividuelle Reaktionen in seinen Erscheinungsformen geprägt wird [2, 154]. Auch wenn die MTA Pessimismus hinsichtlich des Vorteils zusätzlicher psychosozialer Therapie und der Nachhaltigkeit der Interventionen bezogen auf die Kernsymptomatik verbreitet hat, geht aus der Studie klar hervor, dass das komplexe Bild des ADHS mit seinen komorbiden, insbesondere sozialen Problemen auch sozio- und psychotherapeutisch gebessert werden kann [302].
Nichtpharmakologische Therapie wie Ergotherapie, Bio- und Neurofeedback [8, 15, 255, 296], psychologische und Verhaltenstherapie (s. unten), kognitives Training[84, 294, 305] und Sport [150] sind insbesondere als Zusatztherapie bzw. zur Besserung der EF erfolgreich [24, 68, 158, 252, 302]. Ergotherapie ist trotz kritischer Kommentare [11] vor allem wegen der Besserung dysexekutiver Probleme die Therapie der Wahl, insbesondere im Vor- und Primärschulalter [144, 200]. Auffällig ist eine relativ hohe Streubreite der Effektstärken nichtpharmakologischer Therapie [262], die vorwiegend durch methodische und persönliche Heterogenität erklärbar sein dürfte. Diät [59, 93, 198, 237], pflanzliche Arzneimittel [13], Elimination von Lebensmittelfarben, Schwermetallentgiftung, Homöopathie etc. [20, 307] zeigen keine nachweisbare Effizienz. Trotz einiger erfolgversprechender Einzelstudien zeigen Metaanalysen eine nur geringe Wirksamkeit von Omega-3-Fettsäuren [1, 80, 236, 237, 249, 302]. Für Eliminationsdiät („few food diet“) zeigen sich möglicherweise in Abhängigkeit vom Allergierisiko [215, 279] interessante Effekte als ADHS-spezifische Nahrungsergänzungstherapie.
Sozialpsychiatrische und -therapeutische Maßnahmen umfassen Aufklärung der Familienmitglieder und der Pädagoginnen und Pädagogen über die Probleme des ADHS und der Komorbiditäten, den verständnisvollen Umgang mit den Kindern, das Nicht-persönlich-Nehmen von Ungeduld, Planungsproblemen, Erst-Handeln-dann-Denken usw. Erfolgreiche Strategien sind Planen der Tagesstruktur, Strukturieren und Aufteilen von Aufgaben, positives Denken und Nichtvergessen von Lob und sozialer Verstärkung [73]. Bei Problemfamilien sind auch intensivere Unterstützungsprogramme erfolgreich [76].
Individuelle und Gruppentherapien zielen auf eine Verbesserung des Verhaltens, der Konzentrationsfähigkeit, der Eltern-Kind-Beziehung und der Schulleistungen ab [168]. Achtsamkeitsbasierte Therapien können Aufmerksamkeit und Selbstregulation verbessern [282]. Evaluierte Programme wie THOP [101], ein verhaltenstherapeutisches Eltern‑, Einzel- und Gruppentrainingsprogramm, hilft, ein ADHS-Störungskonzept zu erarbeiten, fördert positive Eltern-Kind-Interaktionen, identifiziert, bekämpft und hilft, impulsives und oppositionelles Problemverhalten zu verändern. Spezifische Verhaltensprobleme werden bearbeitet, angemessene Verhaltensweisen, positives Spielverhalten und reflexives, planvolles Arbeitsverhalten werden gefördert und generalisiert. THOP kann durch das Präventionsprogramm für expansives Problemverhalten (PEP) mit einem Eltern- und einem Erziehermodul ergänzt werden [245]. Das Marburger Konzentrationstraining (MKT) für Vorschulkinder [180] bzw. Schulkinder [179] soll strukturiertes Denken und Konzentrationsfähigkeit verbessern. Eine Metaanalyse [86] zeigt, dass elterliches Erziehungsverhalten und Selbstkonzept, ADHS-Symptome und das Sozialverhalten unter kognitiver Verhaltenstherapie signifikant verbessern. Für Jugendliche sind auch kognitiv behaviorale Therapien, die sich primär bei Erwachsenen bewährt haben, geeignet [216, 271]. Sie beinhalten Psychoedukation, Verhaltenstraining und kognitive Elemente, die gegen dysfunktionale Selbstabwertungen und deren Konsequenzen gerichtet sind.
Elterntraining soll die elterliche Erziehungskompetenz stärken, wobei die Nachhaltigkeit von Trainingsprogrammen nicht sicher gewährleistet erscheint [168, 185, 217, 359]. Die Frage der Messbarkeit des elterlichen Erziehungsverhaltens ist allerdings nicht geklärt. Bewährte und evaluierte Elterntrainingsprogramme sind z. B. Wackelpeter und Trotzkopf [102] und das Triple P, Positive Parenting Program [274].
Prognose
ADHS ist eine chronische Erkrankung, die unbehandelt zu starken Einbußen der Leistungsfähigkeit und Lebensqualität führt [27]. Auch wenn sich die Hyperaktivitätssymptome im Lauf der Pubertät bessern, bleiben Aufmerksamkeits- und Impulsivitätsprobleme und die komorbiden Probleme ohne Behandlung weiterhin leistungseinschränkend und prädisponieren für Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, in der Emotionsregulation, in den persönlichen Beziehungen und fördern psychosomatische Probleme und Depression. Die Persistenz der Probleme wird vorwiegend durch den sozialen und ökonomischen Hintergrund sowie den Schweregrad der kognitiven Beeinträchtigung bestimmt [171]. Weitere Faktoren für das Persistieren des ADHS sind (multimodale) Behandlung, komorbide Verhaltens- und depressive Störung [56]. Einige Autoren empfehlen daher lebenslange (medikamentöse) Therapie, zumindest bei den rund 60 % der Patientinnen und Patienten, bei denen die Kardinalsymptome persistieren. Diese Medikation wird aber nur von einem Bruchteil der Betroffenen verwendet [260]. In einer großen Fragebogenstudie erinnerten sich die meisten Erwachsenen, schulleistungsmäßig schlechter gewesen, mehr Verhaltensauffälligkeiten, weniger Freunde und schlechtere Erinnerungen an die Jugendzeit gehabt zu haben und dass sich diese negativen Erfahrungen auch bis ins Erwachsenenalter fortgesetzt haben [53]. Zusätzlich werden die transgenerationalen Probleme durch Armutsgefährdung und Selbsttherapie mit Alkohol und ev. Drogen verstärkt. Ein Problem sind auch die Nicht-ADHS-Mütter, die mit den ihnen nicht bekannten ADHS-Problemen der Kinder konfrontiert sind.
Ein Problem ist die Transition jugendlicher Patientinnen und Patienten ins Erwachsenenalter [229]: Einerseits sinkt in der Pubertät die Bereitschaft, laufend Medikamente zu nehmen, andererseits gibt es nur wenige ADHS-erfahrene Erwachsenenpsychiater, die eine weitere fachgerechte Behandlung übernehmen können.
Trotz deutlicher klinischer Verbesserungen und eindeutig besserer Prognose unter medikamentöser Therapie geben die Befunde eines deutlichen und persistierenden Unterschieds zu Nicht-ADHS-Kindern bis ins Erwachsenenalter zu denken. Die schlechte Prognose insbesondere bei Außenseiterkindern mit schwer auffälligem Sozialverhalten, desolaten Familienstrukturen, wehrlosen, überforderten und resignierenden Eltern und Einzelerzieherinnen und -erziehern sowie die Tatsache, dass Jugendkriminalität mit sehr hoher ADHS-Komorbidität korreliert ist [240, 352], wirft die Frage auf, inwieweit multimodale, früh einsetzende, präventive Konzepte [79], transgenerationale Armutsbekämpfung, intensive sozialtherapeutische Programme [76] und zusätzliche Therapieoptionen wie fortgesetztes Familiencoaching, intensive schulische und Freizeitangebote als zusätzliche, maßgeschneiderte Maßnahmen insbesondere bei diesen Risikogruppen erfolgreich sein können. Wenn auch die „goldene Kugel“ insbesondere bei diesen Risikogruppen noch nicht gefunden ist, ermutigen die Therapieerfolge bei einem Großteil der Kinder, die zumindest eine adäquate Ausbildung vollenden können und dank Medikation auch deutlich weniger ausgegrenzt werden. Künftige Forschungsziele sind vor allem Behandlungsergebnisse jenseits der Symptomkontrolle, Fragen der Medikamentensicherheit und der Wirksamkeit im Alltagsleben [349].
Download & Literatur
[file='158'][/file]
Notes
Notes
- Als wesentliche Kandidatengene gelten [333] DAT1 (Dopamintransporter, 5p15.3; [133, 253]), DRD4 (Dopamin-D4-Rezeptor, 11p15.5; [110]), DRD5 (Dopaminrezeptor D5, 4p16.1–p15.3; [213]), SNAP25 (Synaptosome-associated protein of 25 kDA, 20p11–p12; [214]), Gene, die den Dopamin- und Noradrenalinmetabolismus regulieren (Tyrosinhydroxylase, 11p15.5, DOPA-Decarboxylase, 7p11, Dopamin-β-Hydroxylase, 9q34, Catechol-O-Methyltransferase, 22q11.2, Monoaminoxidaseinhibitor A und B –, Xp11.23) und Glutamat Rezeptor, ionotropic, Aspartat 2A, 16p13 und das Serotonintransporter-Gen [170].
- In einer kinder- und jugendpsychiatrischen Spezialambulanz
- Diese Kombination, nur aufmerksamkeitsgestörtes ADHS und Intelligenzminderung, findet sich im eigenen Datensatz nicht, insbesondere auch keine Geschlechtsunterschiede in der Leistungsdiagnostik.
- http://www.cogmed.com oder http://www.executivefunctiontraining.com
- Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.
- Test of Variables of Attention, https://www.tovatest.com/
- Bimodal (kurz- und verzögert) wirksames MPH
">MPH , MPH ">MPH OROS („osmotic controlled-release oral delivery system“, 2001), Concerta®, bzw. Ritalin LA®, und Medikinet retard® und ein derzeit nur in den USA erhältliches, transdermales MPH ">MPH , Daytrana®. - Die kardialen Risiken sind in Kooperation mit der Kinderkardiologie zu klären und das Behandlungsrisiko gegenüber einem Behandlungsgewinn abzuwägen. Dies gilt insbesondere für supraventrikuläre Tachykardien, die vorbeugend mit einem β‑Blocker oder bei entsprechender Indikation mittels Katheterablation behandelt werden können. Ein initiales Routine-Elektrokardiogramm und gelegentliche Blutdruckmessungen werden empfohlen.
- Ausnahme i.v.
- In Deutschland und Österreich Elvanse® (Shire).
- In Österreich ist Lisdexamphetamin daher auch nicht auf dem Suchtgiftindex.
- Strattera®, Lilly und Generica.
- Mesokortikale Dopaminvermehrung und autoinhibitorische Downregulation des nigrostriatalen dopaminergen Systems vs. Blockade mesolimbischer D2-Rezeptoren.
- Prävalenz 3,2–5,5.
Author
Christian Popow & Susanne Ohmann
Christian Popow und Susanne Ohmann haben für die Publikation des Beitrags finanzielle Unterstützung von der Firma Medice erhalten.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht
Über den Autor
Automatisierte Themen im Bereich ADHS & Autismus