Beiträge von Missy

    Aber hätte es diese "Suchtkarriere" überhaupt gegeben bei einer frühzeitigen Diagnose?

    Ich war nie süchtig, ich kann es also nicht nachvollziehen. Aber ich habe nicht aufgepasst, konnte nie lange zuhören, ob in der Schule, an der Uni oder später in Meetings und Seminaren. In Betriebsversammlungen habe ich Anderen zwei Stunden dabei zugeschaut, wie sie still auf ihren Stühlen saßen und konzentriert zuhörten, während ich kaum mal eine Minute ruhig sitzen konnte. Es sei denn, ein Thema war wahnsinnig interessant. Statt auf den Bildschirm zu schauen, habe ich mich zum Fenster hinaus geträumt. ich hatte einen solchen Ärger wegen meiner Unfähigkeit, mich zu konzentrieren... X/ Ja, und dann meine "mangelnde Impulskontrolle"... Heute weiß ich nur zu gut, was Mobbing ist.

    Klar, ich habe auch FreundInnen gewonnen, weil ich so bin, wie ich bin. Das gebe ich zu. Und so bin ich gerade dabei, Frieden zu schließen - mit mir, meiner Vergangenheit und meinem ADHS <3

    Wir hätte also beide, in gewisser Weise, wenn auch auf unterschiedlichen Kursen, beinahe unser Leben an die Wand gefahren, weil keiner gemerkt hat, dass wir Hilfe brauchen. Genau das ist, was mich umtreibt und zornig macht. Welche Folgen es für Betroffene haben kann, wenn ADHS nicht oder spät erkannt wird, scheint sich noch nicht ausreichend herumgesprochen zu haben :rolleyes:

    Im übrigen bin ich überhaupt nicht davon überzeugt, dass Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männer so unterschiedlich sind. Mädchen bringt man nur beizeiten bei, gefälligst brav zu sein und sich zu benehmen :|

    Ich war als Kind beides: unaufmerksam und eine zappelige Nervensäge, die Bleistifte zerkaut und ihre Mutter zur Verzweiflung gebracht hat. Später, als Erwachsene, habe ich Wege gefunden, meine Unruhe zu kanalisieren: ich bin, mehr oder weniger konsequent, auf meinem Stuhl herumgerutscht oder war immer wieder in der Kaffeeküche oder im Haus unterwegs. Zum Ausgleich hatte ich wenig Scheu, KollegInnen und Vorgesetzten unverblümt meine Meinung zu sagen, und musste selbstverständlich auch die Folgen tragen. Bevor ich irgendetwas hätte stoppen können, war es ausgesprochen. Und nicht jeder war begeistert. Ich wurde unter Druck gesetzt und schikaniert, Aufgaben, die ich gut und gerne erledigt habe, wurden mir regelrecht aus den Händen gewunden.

    Die Folge waren, zum Teil schwere, Depressionen, und ich war immer wieder krank geschrieben. Hinzu kamen mehrere Bandscheibenvorfälle, die wiederum die Depressionen wunderbar ergänzten. Keine Freude an nichts, aber ständige Schmerzen. Jahrelang war ich deshalb in Therapie, aber niemand hatte jemals den Verdacht, mein Problem könnte ADHS sein. Hätte ich an der Uni keine Freundin mit einer betroffenen Tochter gehabt, wäre auch ich selbst vermutlich nie auf den Gedanken gekommen, mich testen zu lassen.

    Ich frage mich deshalb, ob es uns viel weiter bringt, nur zu reden und den Frauen zu überlassen, sich Hilfe zu suchen X( Meine Therapeutin jedenfalls hat den weißen Elefanten im Raum nicht gesehen.

    Schade, dass hier so wenig Beiträge stehen... Dann will ich mal: Für mich ist ADHS schlichtweg die späte, sehr späte Erklärung dafür, dass mein Leben so anders war als das meiner gleichaltrigen Verwandten, Bekannten und FreundInnen. Ich habe mich immer gefragt, warum ich anders war und weshalb man mich nicht so sein lassen wollte und ich mich stets ändern sollte. Anpassen. Nicht anecken. Ich bin oft angeeckt, und heute, im Rückblick, kann ich sagen: Es war gut so :saint:

    Ich musste zunächst mehrere Fragebögen ausfüllen; diese wurden geprüft, dann fanden mehrere Gespräche statt, in denen unbeantwortete Fragen geklärt wurden. Normalerweise, so sagte man mir, werden auch Personen aus dem Umfeld befragt, wie etwa Eltern, Geschwister, FreundInnen. Das war bei mir, da meine Eltern schon lange tot sind und ich keine Geschwister habe, ein wenig schwierig. FreundInnen, die mich lange und gut genug kennen, gibt es nur wenige, da ich Menschen immer wieder "hinter mir gelassen" habe. Also hat die Psychologin alles Mögliche wissen wollen: eventuelle Probleme mit den Eltern (oh ja) oder in der Schule (tja). Ausschlaggebend waren dann meine Schwierigkeiten an der Uni, nachdem ich bereits zwei Ausbildungen abgebrochen hatte, und im Berufsleben: impulsives Verhalten (eine schöne Umschreibung der Wahrheit), Chaos :whistling:, Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperfokussieren und zum Ausgleich null Interesse für Themen, die mir egal waren (aber wichtig für Studium bzw. Job). Abschließend wurde die vorläufige Diagnose noch von einem Arzt geprüft und bestätigt. Die Prozedur hat sich etwa drei Monate hingezogen. Das war mein Weg zur Diagnose, aber es kann sein, dass man in dieser Klinik ganz besonders pingelig ist.

    Im Zug habe ich eigentlich keine Probleme; ich schaue zum Fenster raus und bin ganz weit weg. Aber es gibt Situationen, in denen mir Stöpsel in den Ohren nicht helfen, im Gegenteil. Und sich weg träumen fatal wäre. Hier wurde vor wenigen Jahren die Fußgängerzone erneuert - im Hochsommer. Gleißendes Licht vom Himmel, Baulärm, Baumaschinen mit einem Affenzahn unterwegs, Straßenbahnen, Fahrradfahrer, Fußgänger von allen Seiten - ich dachte, ich werde wahnsinnig. Oder Fußgängerüberweg: die Menschen laufen kreuz und quer, von hinten überholend oder von vorne auf mich zu kommend. Das alles ganz schlimm bei strahlendem Sonnenschein. Was tun??? Ich habe die Diagnose sehr spät gekommen, zu spät für Medikamente, weil an über 60jährigen noch nicht ausreichend getestet. =O

    Mit Mitte zwanzig wurde ich zum ersten Mal zum Psychotherapeuten geschickt mit der Verdachtsdiagnose Depression. Seitdem war ich bei mehreren TherapeutInnen in Behandlung. Die Depression ist noch immer da. Ein Grund dürfte sein, dass jahrelang nicht erkannt wurde, wieviele meiner Probleme mit ADHS hätten erklärt werden können. Statt dessen erkundete ich immer wieder aufs Neue meine Kindheit, sämtliche Lebensabschnitte bis heute, ohne dass sich in mir etwas auflöste. Den Zorn, die Ängste, die ständigen Konfrontationen mit den Eltern, mit Lehrern und Vorgesetzten, die zahlreichen Demütigungen erlebte ich jedes Mal neu, aber es gab keine Erklärung, die mich von der Vergangenheit befreit hätte. Jetzt, vorzeitig in Rente, weil ich einfach nicht mehr konnte, weiß ich endlich: ich war unaufmerksam, vergesslich, jähzornig usw., weil ich ADHS habe. Wer sein ganzes Leben lang kritisiert und zurechtgewiesen wird, wer immer wieder erlebt, dass er nicht "passt", nirgendwo, zweifelt und verzweifelt irgendwann an sich selbst. Ich habe mich so oft gefragt, was nicht stimmt mit mir, dass sich ein schwarzes Loch geöffnet hat, in dem alle Freude, alles Helle verschwunden ist. Ich erwarte nicht, jemals wieder frei zu sein. :|